Palliative Geburt: Eine Alternative zum Schwangerschaftsabbruch
Auf dem anonymen Testfeld erscheint eine zweite Linie: Ein neuer Mensch hat sich auf den Weg gemacht, es ist ihr drittes Kind. Und heute erfolgt schon der erste Ultraschall. Klar zu sehen ist die Fruchtblase mit dem kleinen Geschöpf: ein winziges Menschlein. Soo herzig! Und jetzt? Geht es nicht weiter? Was bedeutet dieser hoch konzentrierte Blick des Arztes? Innerhalb von Sekunden beginnt sich eine bange Ahnung breitzumachen: Stimmt da etwas nicht?
Die Themen im Überblick:
Geburtshilfe gestern und heute
Die hohe Sterblichkeit von Säuglingen und Müttern bei der Geburt oder im Wochenbett war früher gang und gäbe.
Kinder mit Behinderungen wurden als gottgegeben akzeptiert oder als Strafe Gottes angesehen.
Dank der modernen Geburtshilfe mit ihren vielfältigen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten haben wir heutzutage viel mehr in der Hand. Vieles können wir mehr oder weniger selbst bestimmen. Z. B., ob wir überhaupt Kinder möchten, wann wir ein Kind möchten und in welchem Umfang wir uns mit pränataler Diagnostik «absichern» wollen.
Sara und Mauro freuen sich schon auf ihr drittes Kind. Es stehen bereits einige schöne Namen im Raum. Ist es wohl nochmals ein Junge oder ein Mädchen? Vielleicht wissen sie nach dem Ultraschall mehr. Allerdings! Jedoch ist es das Gegenteil von dem, was sie sich gewünscht haben. Es besteht ein dringender Verdacht auf eine schwerwiegende Fehlbildung. Ein Faustschlag ins Gesicht! Ist das wirklich wahr?
Ein Kind mit Behinderung – wie soll das gehen?
Wie soll das gehen – ein behindertes Kind neben ihren beiden Wildfängen…, geht es Sara sofort durch den Kopf.
Unterdessen macht der Arzt einen dezenten Hinweis auf einen möglichen Schwangerschaftsabbruch, wenn sich der Verdacht bestätigen sollte. Ihr Kind würde wahrscheinlich nur ein paar Stunden, höchstens ein paar Tage leben. Es wäre sinnvoll, wenn sie sich bald entscheiden könnten. Die Welt steht kopf.
Schon bei den beiden früheren Schwangerschaften haben sich Sara und Mauro bewusst gegen pränatale Untersuchungen entschieden. Ein Schwangerschaftsabbruch kam für sie nie in Frage. Und nun das!
Palliative Schwangerschaft und palliative Geburt
Zum Glück wissen die beiden bereits um die Möglichkeit einer palliativen Schwangerschaft und Geburt.
Die meisten werdenden Eltern in einer solchen Situation erfahren nämlich nichts von dieser Option. Sie bedeutet, der Natur oder dem Kind die Entscheidung zu überlassen, wie weit der gemeinsame Weg geht.
Kein einfacher Weg, doch er ermöglicht es den werdenden Eltern, sich trotz allem auf die Schwangerschaft einzulassen, ihr Kind kennenzulernen und sich zu gegebener Zeit bewusst von ihm zu verabschieden. Es erfolgen die nötigen Kontrolluntersuchungen und das Kind kommt zu seiner Zeit auf die Welt.
Die Eltern können es willkommen heissen und die Zeit mit ihm verbringen bis zum Abschied. Das Baby wird liebevoll umsorgt und bekommt die nötige medizinische Hilfe, damit es nicht leiden muss.
Erfahrungsberichte
Auch Rebecca und Daniel entschieden sich für eine Fortführung der Schwangerschaft mit ihrem todkranken Sohn und berichten in «Irgendjemand hatte Yuri immer im Arm» auf SRF von der Begleitung und vom Abschied.
Im Artikel «Solange das Herz schlägt» in der Republik vom 27. Januar 2024, berichten zwei Frauen, die sich entschieden haben, trotz belastender vorgeburtlicher Diagnosen ihr ungeborenes Kind auszutragen, eindrücklich über ihre Erfahrungen.
Auch Erfahrungen aus anderen Ländern deuten darauf hin, dass eine palliative Geburt weniger traumatisierend ist für die Eltern als ein Abbruch. Die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) empfiehlt daher, das Konzept der «palliativen Geburt» an allen Zentrumskliniken der Schweiz anzubieten.
Verlust eines Kindes in der Schwangerschaft – ein Tabuthema
«Kindsverlust wird bei uns immer noch oft tabuisiert.»
Beatrix Ulrich, Hebamme, spezialisiert in Geburtsverarbeitung und Trauerbegleitung
Beatrice Ulrich ist eine der vielen Mitarbeitenden bei der Fachstelle kindsverlust.ch, einer einzigartigen Anlaufstelle, die Betroffenen kostenlose Beratung und liebevolle Begleitung und Betreuung anbietet.
Ein paar Beispiele:
- Beratung bei normabweichenden Untersuchungen in der Schwangerschaft
- Vorbereitung der Geburt eines verstorbenen oder sterbenden Kindes
- Begleitung in der Zeit danach (Kind willkommen heissen und Abschied nehmen, Wochenbettzeit, Angebote von Rückbildungskursen, Selbsthilfegruppen etc.)
- Unterstützung im Trauerprozess
- Und vieles mehr
Fachpersonen finden hier wertvolle Informationen und gute Weiterbildungsmöglichkeiten. Z. B. die professionelle Begleitung von Eltern beim frühen Tod eines Kindes samt Selbstfürsorge zur emotionalen Entlastung in herausfordernden Betreuungssituationen.
Sogar PsychologInnen, PsychotherapeutInnen und PsychiaterInnen erleben die Begleitung von Eltern von früh verstorbenen Kindern oft als herausfordernd.
Fazit
Der Verlust eines Kindes in der Schwangerschaft und während oder nach der Geburt ist für alle Beteiligten eine enorme Belastung! Die werdenden Eltern, aber auch die Geschwister, Grosseltern, das ganze soziale und berufliche Umfeld und nicht zuletzt ÄrztInnen und Pflegefachpersonen sind dabei grossen Herausforderungen ausgesetzt.
Zum Teil herrschen gewisse Tabus wie «Es war ja noch ganz früh…» oder «Es war sicher besser so…», die den Betroffenen die Berechtigung auf ihre Trauer absprechen. Es ist an der Zeit, dass sich da etwas in Richtung Offenheit und Thematisierung tut. Und zum Glück tut sich auch etwas! Siehe Bachelorarbeit einer angehenden Hebamme an der ZHAW zur Entscheidungsfindung werdender Eltern bei positiver Pränataldiagnose.
© christliche-lebensberatung.ch, 16.1.2025, Autorin Tabea Räber
Autorin
Tabea Räber ist Mitglied des Autorenteams auf Christliche-Lebensberatung.ch und anderen Online-Plattformen. Sie hat jahrelang sowohl als Hebamme wie in der Seniorenpflege gearbeitet.