Gottesbild: Und die Wahrheit wird euch frei machen
«Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.» Dies verspricht Jesus Christus in der Bibel Menschen, die an ihn gläubig geworden sind (Johannes 8,36). Was aber, wenn gläubige Christen nichts von dieser Freiheit spüren? Wenn der Glaube alles andere als frei zu machen scheint? Wenn einen schwer belastet, was doch Lebenshilfe bedeuten sollte?
Krankmachende Gottesbilder mit verheerenden Auswirkungen
Liebender Vater versus strenger Richter
In seinem Buch «Gott auf der Couch» berichtet der Psychotherapeut Tilmann Moser von Menschen, die die oben genannte Erfahrung gemacht haben. Er beschreibt das Bild eines Richtergottes, der so viele kindliche und erwachsene Gemüter in Angst und Schrecken versetzt.
Moser hat beispielsweise mit Patienten zu tun, deren Gewissen es ihnen nicht erlaubt, Freude am Leben zu haben, und die sich alle paar Minuten oder Stunden fragen müssen: Was habe ich wieder falsch gemacht, was mich der Hölle nahe bringt, wenn ich nicht richtig bereue und bekenne? Wenn ich nicht um Gnade flehe oder gute Werke zu meiner Schicksalswende vollbringe?
Das Schlimmste sei, dass in vielen gläubigen Menschen, die Not leiden, eine sehr primitive Theologie am Werk ist.
Dabei werde Gott als Instrument der Erziehung benutzt oder treffender ausgedrückt: missbraucht.
Eine Anekdote besagt: Als der Teufel merkte, dass er Gottes Gemeinde nicht mehr vernichten konnte, wurde er Mitglied. Die Folge: Statt göttlicher Liebe und Lebenshilfe herrschen Zwang und subtile Knechtung.
Die Fähigkeit zur Andacht
Kinder entwickeln in einem bestimmten Alter, vielleicht auch zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Entwicklung, die Fähigkeit zur Andacht, vergleichbar mit tiefem kindlichem Staunen. Dieses Phänomen hat eine wichtige Bedeutung für den Aufbau der seelischen Welt. Es sei dann entscheidend, so Moser, wie diese Fähigkeit zur Andacht aufgenommen werde und welche Inhalte die Erwachsenen in dieses kostbare Gefäss hineingiessen würden.
Wird der strenge Richtergott hineingegeben, kann das Gift der Lebensverneinung tief im Zentrum der Persönlichkeit sitzen.
Was noch erschwerend hinzukommen kann, ist, wenn ein Kind in seiner frühen Entwicklung keine tragfähige Bindung zu seinen Eltern (v. a. zur Mutter) oder zu seinen Bezugspersonen aufbauen konnte. Diese bilden sozusagen den Prototyp zum späteren Gottesbild. Bei ungesundem Bindungsverhalten baut die Gottesbeziehung auf einem bereits bestehenden Defizit auf. Das Kind flüchtet sich in eine kompensatorische Andachtswelt, die den erlittenen Schaden wieder gutmachen soll.
Krankmachende Gottesbilder können sich so immer weiter potenzieren, denn sie machen den Schaden alles andere als wieder gut!
Man käme nie auf die Idee, am eigenen Gottesbild zu zweifeln
Dieser Mechanismus kann zu einem inneren Gespaltensein führen, welches aber oft lange nicht erkannt wird. Wenn überhaupt. Man ist überzeugt, es mit dem Gott der Liebe zu tun zu haben und käme nie auf die Idee, dies anzuzweifeln. Man hat Aussagen verinnerlicht wie: Gott ist gut, er hat recht und macht keine Fehler!
Und den Zustand, worin man sich befindet, wähnt man als Freiheit. Folglich muss das Problem, keine Freiheit zu spüren, doch unweigerlich bei einem selbst liegen!
Abermals beginnt die bohrende Frage: Was mache ich falsch? Und der Teufelskreis geht weiter.
Das Gottesbild wird bereits in der Kindheit geprägt
Gott als erbarmungloser Vater
Moser erlebt auch immer wieder Menschen, die ihrem Kindergott längst verärgert und/oder enttäuscht den Rücken gekehrt haben. Doch sie tragen ihn noch immer tief in ihrem Denken und Fühlen in Form von Selbstverurteilung oder übersteigerten Erwartungen mit sich, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Wer einst so viel Macht hatte, dankt nicht so leicht ab!
Leo Booth, britischer Theologe und Suchtberater, schrieb ein Buch mit dem Titel «When god becomes a drug». «Wenn Gott zur Droge wird».
Darin beschrieb er die Folgen von um sich greifenden und bedrängenden Evangelisationen und die zunehmende religiöse Abhängigkeit mit teils krankhaftem Charakter.
Obwohl er davon ausgeht, dass eine zunehmende Zahl von Psychotherapeuten sich religiösen Störungen gegenüber öffnet, kommt er zum Schluss: «Viele Patienten werden stationär oder ambulant behandelt, ohne dass sie die Probleme ihres religiösen Missbrauchs bearbeiten, meistens, weil keiner danach sucht oder deren Bedeutung kennt.»
Sekundäre Schäden sieht er auch noch bei den Kindern von Menschen mit religiösen Störungen, auch wenn sie sich selbst von der frommen Indoktrination gelöst haben:
«Erwachsene Kinder von religiös Abhängigen verurteilen sich selbst gnadenlos. Du wächst heran und weisst, dass nichts, was du tust, je genug sein wird. Man hat dir Vorbilder gegeben, die du nie erreichen kannst …». (S.189)
Zu einem neuen Gottesbild finden
Einem krank machenden Gottesbild kann echte Liebe, Anteilnahme und eine gesunde, wohlwollende Beziehung entgegengesetzt werden. Das ist leicht gesagt, in der Praxis jedoch sehr aufwändig. Falsche Lebenseinstellungen, die sich über Jahre oder Jahrzehnte entwickelt haben, können nicht einfach aufgelöst werden.
Oft fühlen sind religiös geschädigte Menschen von Gott verworfen.
Sie sind ausserdem äusserst misstrauisch, weil alles, was über ihre eigene Religion hinausgeht, als verteufelt und gefährlich dargestellt und empfunden wird. Sie wurden zur Unfähigkeit erzogen, Informationen oder Autoritäten in Frage zu stellen oder darüber nachzudenken. Hier gilt es, zu einem realistischeren Gottesbild zu finden.
Das falsche Gottesbild: Du weisst, dass nichts, was du tust, je genug sein wird.
Das kann Gott unmöglich so gewollt haben …
Das Bild verändern: Vom strafenden Richter zu einem bergenden «Vater- und Muttergott», der einem wohlgesinnt und dem Leben förderlich ist. Wie ist Gott wirklich? Was bedeutet echte Freiheit? In vielen Fällen ist externe Hilfe nötig, um sich neu orientieren zu können. Patentlösungen gibt es vermutlich keine.
Tilmann Moser spricht von der Notwendigkeit, das Gottesbild zu entneurotisieren, um von einer Gottesvergiftung, wie er es nennt, zu einem erträglichen Gott zu finden.
Dazu benutzt er manchmal das Rollenspiel. Der Patient stellt sich Gott auf einem Stuhl oder einer erhöhten Position vor und spricht zu ihm.
Das kostet religiöse Menschen meist sehr viel Überwindung. Eventuell folgt ein Rollenwechsel.
Der Gläubige schlüpft in die Rolle Gottes und kann aus dieser Perspektive von aussen auf sein Elend herabsehen. So wird erfahrbar, dass Gott es unmöglich so gewollt haben kann. Ein Prozess des Umdenkens in Richtung Freiheit kann beginnen.
Buch Leo Booth: «When god becomes a drug»
ISBN: 9780962328299
Und die Wahrheit wird euch frei machen
Autorin:
© christliche-lebensberatung.ch, 15.2.2022, Autorin: Tabea Räber, arbeitete in der Seniorenpflege. In ihrer Arbeit wurde sie mit verschiedensten Gottesbildern konfrontiert.
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