Was ist Toleranz?
erklärt Peter Henning in der Sendung «Zoom: Wie tolerant ist der christliche Glaube» auf Radio Life Channel (siehe Hinweis rechts). Henning ist langjähriger Lehrer am Theologisch Diakonischen Seminar Aarau in den Fächern Dogmatik und Kirchengeschichte.
Bescheidenheit ist ein Teil der Toleranz…
… denn jede Erkenntnis wirft neue Fragen auf. Bereits die Autoren des Neuen Testamentes erkannten dies, indem sie schrieben: «All unser Wissen und Erkennen ist Stückwerk. Das löst Bescheidenheit aus.»
Rücksicht verbunden mit Respekt
Wiederum hat jeder in seinem Wissen, der Erfahrung und Erkenntnis einen anderen Stand. Gegenseitige Rücksicht ist gefordert, wenn jemand die Erkenntnis des andern nicht nachvollziehen kann, aufgrund seiner Erfahrung oder seinem ganz anderen Weltbild.
Toleranz fordert Geduld
Toleranz erfordert Geduld: Ein Lehrer braucht Geduld bis ein Schüler versteht, was er ihm erklärt. Vom griechischen übersetzt versteht man unter Toleranz «drunter sein und es aushalten». Tolerare (lateinisch) meint wörtlich «ertragen». Ertragen setzt Geduld voraus: Ich ertrage eine unerwünschte Situation oder einen schwierigen Menschen. Eine grosse Herausforderung ist, wenn man Ungerechtes ertragen muss (wie zum Beispiel. Justizirrtümer), erklärt Peter Henning.
Für ihn hat Toleranz aber auch klar eine Grenze: Nämlich dort, wo Ungerechtigkeit eine Unmenschlichkeit produziert – gegen diese muss man sich wehren. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer sagte einmal: «Es gibt einen Punkt, wo ich dem Wahnsinnigen in die Speichen greifen muss, um nach Möglichkeit Unheil zu vermeiden.» Nämlich dann, wenn die Würde des Menschen, die Menschlichkeit, auf der Strecke bleibt.
Toleranz fordert differenziertes Denken
Toleranz entsteht durch differenziertes Denken. Zum Beispiel durch einen Dialog, bei dem jeder von seinen Erlebnissen und Erfahrungen erzählt. Das heisst: Ich informiere mich, reflektiere und erhalte dadurch einen differenzierten Überblick.
Wahrheit und Toleranz
Vieles was wir empfinden ist relativ, denn jeder hat eine andere Sichtweise und empfindet anders. In der Wahrnehmung ist alles relativ und hat viel Subjektives. Einer findet die Schweiz sei das schönste Land der Welt. Ein anderer sagt, die Schweiz sei zwar schön, aber es gebe schönere Länder. Hier sieht man, wie relativ der Begriff Wahrheit oder Wirklichkeit ist. Michel Foucault (französischer Philosoph) sagte, «Jeder konstruiert seine eigene Wirklichkeit. Was tatsächlich Wirklich sei, können wir gar nicht wissen». Hat denn jeder seine eigene Wahrheit? Dann könnten wir das Wort Wahrheit ja aufgeben. Peter Henning meint, in unserem irdischen Leben gebe es keine absolute philosophische Wahrheitsformel.
Wahrheit als Beziehungs- und Gemeinschaftsbegriff
Auch Pontius Pilatus suchte nach der Wahrheit und fragte Jesus direkt, was denn Wahrheit sei. Jesus geht auf die Frage nicht wirklich ein. Man liest aber in der Bibel über Jesus, dass er von sich sagt: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben niemand kommt zum Vater (Gott) ausser durch mich».
Jesus will mit seiner Aussage deutlich machen, dass Wahrheit ein Beziehungsbegriff ist. Wahrheit ist ein Geschehen, keine Behauptung und keine These. Wahrheit hat etwas zu tun mit Relation (Beziehung). Und zwar geht es hier um eine Urbeziehung und nicht um Relativismus 1). Wahrheit und echtes Leben ereignen sich auf einem Weg, der von Jesus Christus begleitet wird. Gott definiert sich als einen Weg.
Das ist eine Dynamik. Jesus sagt: niemand kommt zum Vater ausser durch mich – damit meint er, wenn wir Menschen den Ursprung unseres Seins und Sinn erfahren wollen, erkennen wir das nur, wenn wir mit Jesus Gemeinschaft haben.
Der göttlichen Wahrheit sehr nah
Jesu Aussage, dass er der Weg, die Wahrheit und das Leben sei, sollte man unbedingt verbinden mit dem Gebot «Liebe zu Gott, zu sich selbst und zum Nächsten», so Peter Henning. So kommen wir der göttlichen Wahrheit ganz nah. Wahrheit geschieht in Liebe. Jesus habe uns diese göttliche Liebe vorgelebt. Wenn wir sein Leben betrachten, was er für uns Menschen getan hat, können wir erkennen, was lebendige Wahrheit ist – nämlich: Sich in der Liebe für Gott, für die Schöpfung und für den Mitmenschen zu entfalten. Wahrheit ist, dass ich mich im Sinne Gottes für Gerechtigkeit, Liebe, Menschlichkeit einsetze und wahrer Mensch werde.
Wahrheit verbunden mit Liebe
Die Christen der ersten 200-300 Jahre waren absolut überzeugt: Jesus war die Mensch gewordene Wahrheit Gottes. Sie wandten keine Gewalt an, um diese Wahrheit durchzusetzen. Sie waren tolerant und lebten nach ihrer Überzeugung, verbunden mit einer universalen Liebe. Wenn sie von ihrer Überzeugung redeten, dann im Sinn von «Einladung» und nicht von «Zwang, Druck oder Gewalt».
Intoleranz und Toleranz in der Kirchengeschichte
In der Kirchengeschichte war einerseits sehr viel Intoleranz zu beobachten: Ab dem konstantinischen Zeitalter wurden Christen so intolerant, wie früher das römisch staatlich verordnete Heidentum. Karl der Grosse wollte in Mittel- und Nordeuropa heidnische germanische Völker durch Zwangstaufen «Zwangs Christianisieren».
Auf der anderen Seite war das Christentum Richtung Neuzeit wortwörtlich der «Mutterboden der Toleranz».
Wie können Christen tolerant auftreten?
Christliche Toleranz respektiert Würde und Freiheit des Menschen. Und seine Ansichten, Ideologie und Weltanschauung. Aber Toleranz heisst nicht, dass man schweigen muss. Man soll zu seiner Überzeugung stehen und sich als Christ auch denen zumuten, die nicht Christ sein wollen: eine Kombination von Wahrheit und Liebe. Und unter einer toleranten christlichen Gemeinde versteht Peter Henning ein Ort, wo sich alle herzlich willkommen fühlen.
1) Der Relativismus, gelegentlich auch Relationismus (entsprechend von lateinisch relatio, «Verhältnis», «Beziehung»), ist eine philosophische Denkrichtung, welche die Wahrheit von Aussagen, Forderungen und Prinzipien als stets von etwas anderem bedingt ansieht und absolute Wahrheiten verneint. Dass also jede Aussage auf Bedingungen aufbaut, deren Wahrheit jedoch wiederum auf Bedingungen fusst und so fort. (Wikipedia)
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