Psychiatrie im Wandel – vom neuen Selbstverständnis des Menschen

Unser Selbstverständnis und unsere Gesellschaft haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Und damit auch die Psychiatrie und Psychotherapie. Dies sind Aussagen von Daniel Hell, Psychiater, Psychotherapeut, emeritierter Professor für Klinische Psychiatrie und langjähriger Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK). Mit Überzeugung vertritt er einen ganzheitlichen Ansatz bei der Behandlung psychischer Erkrankungen. In seiner Berufskarriere hat Hell die Entwicklung der Psychiatrie in der Schweiz hautnah miterlebt und kommt dabei zu Schlüssen, die überraschen mögen.

Die Themen im Überblick:

Psychiatrie im Wandel – vom neuen Selbstverständnis des Menschen

Psychiatrie im Wandel – vom neuen Selbstverständnis des Menschen

Psychiatrie damals

Alles fing ganz bescheiden an: Als Hell 1971 seine erste Arbeitsstelle als psychiatrischer Assistenzarzt im Burghölzli begann, traf er auf räumliche und therapeutische Verhältnisse, die heute kaum mehr vorstellbar sind. Die Mauern um die Anlage noch nicht lange entfernt, geschlossene Abteilungen, karge Einrichtung, Mehrbettzimmer ohne Privatsphäre, enge Wachsäle.

Die Behandlung bestand neben Psychopharmaka hauptsächlich in Arbeitstherapie, vor allem in einfachen industriellen Arbeiten.

Die pflegerische und ärztliche Betreuung war sehr beschränkt, weil nur wenig Fachpersonal zur Verfügung stand. Hospitalismus lässt grüssen!

Hell umfasst diesen Zustand als eine «Psychiatrie der Armut und Isolation». Dafür habe er sich als junger Arzt geschämt.

Die Revolution in der Psychiatrie

Erstaunlich ist, dass Hell betont, dass die revolutionäre Wandlung, die die Psychiatrie seitdem erlebt hat, nicht hauptsächlich Psychopharmaka zu verdanken sei, wie man es vielleicht meinen könnte,

sondern einer Reformbewegung, die das Persönliche von psychisch Kranken betonte.

Zudem rückte die Psychiatrie aus dem Abseits ins mediale und gesellschaftliche Interesse. Dies führte dazu, die psychiatrische Behandlung zu verbessern und auch die Psychotherapie und Sozialpsychiatrie bekamen Aufschub. Eine grosse Rolle spielte dabei die vermehrte Beschäftigung mit psychodynamischen Vorstellungen.

Die Neurologie hält Einzug in die Psychiatrie

Nun ein Blick ins aktuelle Psychiatriegeschehen. Heute beeinflussen vor allem die Neurowissenschaften, was wir über psychische Krankheiten denken. Sehr viele Menschen verstehen psychische Krankheiten als Hirnstörungen. Allerdings seien bisher die häufigsten psychischen Störungen, wie insbesondere die meisten Depressionsformen, neurobiologisch weitgehend ungeklärt.

Psychische Störungen sind oft nicht allein auf Hirnveränderungen zurückzuführen und werden deshalb auch als multifaktoriell begründet, ohne dass jedoch der komplizierte Zusammenhang genau bekannt wäre.

Und doch ist der Stellenwert der Neurowissenschaft in unserer Gesellschaft nach wie vor sehr hoch.

Die Neurologie hält Einzug in die Psychiatrie

Die Neurologie hält Einzug in die Psychiatrie

Antidepressiva als psychische Schmerzmittel

Sehr überraschend ist Hells Aussage, dass die langjährige Begründung, depressive Menschen hätten im Gehirn einen Mangel an Serotonin, zu bröckeln beginne.

Viele Firmen hätten sich von der Forschung zu Medikamenten vom Typ Antidepressiva zurückgezogen. Trotzdem werden Antidepressiva immer häufiger verwendet. Das Vertrauen in sie scheint ungebrochen. Und sie haben eine Wirkung, allerdings wahrscheinlich keine spezifisch antidepressive, sondern eher eine beruhigende und emotional distanzierende.

Sprich: Antidepressiva verringern das Leiden depressiver Menschen, indem sie es sie nicht so spüren lassen.

Besser sei natürlich eine Depressionsbehandlung, die die Zusammenhänge des krankhaften Geschehens beachtet, die das Leiden überhaupt erst hervorgerufen haben. 

Hierzu gehören vor allem

  • innere und
  • äussere Konflikte wie auch
  • belastende Lebenssituationen.

Diese Faktoren zu bearbeiten, hängt unter anderem von der Einsicht und vom Willen des Patienten ab. Hier stellt Hell kulturbedingte Veränderungen fest. Patienten gehe es heutzutage weniger um ein Ringen mit sich selbst als um Techniken, wie mit auftretenden Problemen umzugehen sei.

Herausforderungen der Psychiatrie heute

Psychiatrie und Psychotherapie müssen sich immer wieder mit neuen Phänomenen und Problemen auseinandersetzen.

Die Digitalisierung erlaubt es, sehr viele Daten gleichzeitig zu verarbeiten und grosse ökonomische wie empirische wissenschaftliche Analysen zu erstellen. Gleichzeitig rückt der einzelne Patient wieder mehr in den Hintergrund. Wo die Psychiatriereform versuchte, dem einzelnen Patienten und auch seinem Umfeld näher zu kommen, um ihn besser zu verstehen, kommt es aktuell wieder zu mehr Zentralisation mit Grosskliniken oder Klinikverbünden. Die Erfassung der Patienten erfolgt vermehrt über validierte Fragebögen als über persönliche Gespräche.

Diese Tendenz ist besser für eine Population von Menschen als für eine einzelne Person, für die subjektiv die Beziehung und das Verständnis im Vordergrund stehen.

Hell pflege zu sagen: die Psychiatrie, die entsprechend der Wortbedeutung einmal eine «Heilkunde der Seele» war, wird heute zur «Encephaliatrie», zur Heilkunde des Gehirns.

Der Mensch: Subjekt oder Objekt?

Ein Neurologe nimmt einen Patienten als zu untersuchendes Objekt wahr, während ein phänomenologisch orientierter Kliniker ihn als Subjekt oder Person sieht und an seinem Erleben Anteil nimmt, so Hell.

Trotz zahlreicher Bemühungen wurden noch keine spezifischen Biomarker für psychische Erkrankungen gefunden. Um ein Krankheitsgeschehen erfassen zu können, brauche es mehr, als grosse Daten biologischer, psychologischer und sozialer Art miteinander zu kombinieren und zu verrechnen.

Viele Menschen, die in psychischen Schwierigkeiten stecken, seien zwar gar nicht so unglücklich, wie ein Objekt behandelt zu werden, z. B. mit einem Medikament oder einem psychotechnischen Tool, das ihr Verhalten verändert.

Psychiatrie: Was macht uns als Menschen aus?

Die Verunsicherung kann angesichts der grossen Autonomie und weitreichenden Wahlfreiheit, wie wir sie heute erleben, jedoch viel tiefer reichen und in eine existenzielle Sinnfage münden.

Früher war man «sich selbst gegeben», während man sich heute «selbst zu erschaffen und zu verwirklichen» hat.

Psychatrie: Was macht uns Menschen aus?

Was macht uns Menschen aus?

Das neue menschliche Selbstverständnis – die Qual der Wahl

Unsere neue grosse Freiheit kann zu viel Selbstbewusstsein führen, bei aufkommenden Schwierigkeiten aber zu ebenso grosser Belastung. Unser Geist als Subjekt erkennt den Körper und das Seelische als Objekt. Mit unserem Geist führen wir uns also quasi selbst.

Was ist nun aber mit unseren präreflektiven Anteilen? Mit denen, die vor jeglicher Selbstreflexion agieren und wo unser Geist nicht hinreicht? Der Ort, wo eine dumpfe Leere herkommen kann, bei möglicherweise gleichzeitiger Unruhe. Wo man sich vielleicht in die Welt geworfen fühlt, abgetrennt von anderen Menschen.

Über diese unbewussten Anteile dürfe therapeutisch nicht hinweggegangen werden. Haben Psychiatrie und Psychotherapie nicht auch darauf einzugehen und sich ihnen anzupassen?

Die Individualisierung des Menschen und ihre Folgen – auch für die Psychiatrie

Die zunehmende Individualisierung hat die Erwartungen an uns selbst und an andere (zum Beispiel von Eltern an ihre Kinder) stark verändert. Die Fallhöhe des Scheiterns hat sich sozusagen erhöht. Gesellschaftlich dominiert nicht mehr so sehr das «Wir», sondern viel mehr das «Ich». Auch in der Spiritualität geht es häufig nicht mehr so sehr um die Beziehung zu einem Du, als um die Beziehung zu sich selbst.

Wir postmodernen Menschen befinden uns in einem vielschichtigen Wandel, in dem wir uns zurechtzufinden haben. Auch wenn wir es vielleicht gerne glauben würden: Niemand schafft diese Herausforderungen allein! Der Mensch ist und bleibt ein soziales Wesen.

Gesucht sind motivierte Menschen, die sich auf die aktuellen Herausforderungen einlassen

Auch in der Psychiatrie und Psychotherapie ist die zwischenmenschliche Beziehung unerlässlich. Sie kann durch keine Methode ersetzt werden.

Viele Stellen in der Psychiatrie sind unbesetzt. Wir brauchen, wie damals im Burghölzli, auch heute kompetente und motivierte Menschen – Pflegefachfrauen und -männer, ÄrztInnen, PsychologInnen, Fachpersonen Betreuung etc. – die sich auf die aktuellen Herausforderungen einlassen und, wie anfangs berichtet, ebenfalls gute Wege bahnen.

Obiger Artikel ist ein Zusammenzug aus: «Die Herausforderung von Psychiatrie und Psychotherapie angesichts der Krise des modernen Selbstverständnisses» auf  psycharchives.org – Leibniz-Institut für Psychologie

© christliche-lebensberatung.ch, 18.3.2024, Autorin: Tabea Räber, arbeitet in der Seniorenpflege

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