Gottesdienst heute und Christsein im Wandel
… heisst ein Buch, auf das ich im Internet gestossen bin. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich Ende der 1980er Jahre anfing, in den Gottesdienst zu gehen. Der Ablauf war klar geregelt. Zuerst ein paar Lieder, dann die Mitteilungen, nochmals Lieder und dann die Predigt. Am Schluss Lieder, Gebet und Segen und Abschlusslied. Das Morgenprogramm am Sonntag war festgemacht. Es war klar, man geht in den Gottesdienst. Tradition mit geregeltem Ablauf. Heute, 30 Jahre später, sind die Gottesdienste vielfätiger geworden. Besucher werden sogar da und dort spontan mit einbezogen. Gottesdienst heute, das Thema in diesem Artikel.
Gottesdienst oder Christsein im Wandel.
Veränderungen haben ihre Auswirkungen
Kürzlich fragte ein Freund in Facebook, warum Männer weniger in den Gottesdienst gingen.
Eine mögliche Begründung könnten die gestiegenen Anforderungen seitens der Wirtschaft sein. Kraft und Aufnahmefähigkeit sind begrenzt und Mitarbeiter in einer Kirche zu sein, kann je nach Aufbauarbeit sehr viel Kraft beanspruchen. Und das parallel zum Berufsleben.
Freiwilliger Einsatz ist sicher auch eine Frage der Möglichkeiten, der Persönlichkeit, des Umfelds, der Arbeitsbedingungen. «Ich geniesse es, einfach so im Gottesdienst zu sein» hat mir kürzlich ein Mann erzählt. Er könne so Stress abbauen. Wiederum andere erleben in Stressmomenten eine Predigt als zusätzlichen moralisch negativ empfundenen Auftrag. Im Sinn von «Du solltest mehr …». Noch mehr Druck. Wer tut sich das in sonst so stressigen Zeiten schon an?
Neue Möglichkeiten, eine Predigt zu hören
In den letzten 30 Jahren hat sich viel getan. Im Verständnis, was Christsein beinhaltet und in der technischen Entwicklung. Inzwischen sind die Kirchgemeinden so ausgerüstet, dass Predigten oder zum Teil sogar ganze Gottesdienste als Audiodatei oder als Film auf der eigenen Webseite angeboten werden. Wer den Gottesdienst verpasst hat, kann ihn sich somit nachträglich in aller Ruhe noch anhören. Auch Radio Life Channel bietet Gottesdienste mit Predigten an. Im Fernsehen werden ebenfalls Predigten ausgestrahlt. Die umfangreiche Programmauswahl dank digitalen Medien macht es möglich. Insbesondere alte und kranke Menschen schätzen diesen Service sehr.
Ein weiterer grosser Vorteil:
Menschen, die sich einfach über den christliche Glauben informieren möchten, können dies in der heimischen Stube tun. Einfach und bequem.
Die Tatsache lässt sich sicher nicht verschweigen, dass der TV-Gottesdienst den einen oder anderen dazu verlockt, dafür auf den in der Kirche zu verzichten. Das wiederum, so scheint es mir, löst seitens der Kirchen-Verantwortlichen Fragen aus. Denn der Gottesdienstbesuch wird als Pflicht definiert.
Wie viele Gottesdienstbesuche braucht es, um dem Siegel «Christ» zu genügen?
Damit wir seinerzeit konfirmiert wurden, mussten wir eine bestimmte Anzahl Gottesdienste besucht haben. So schrieb es die evangelische Landeskirche damals vor. Wer zu einem Verein gehört, besucht dessen Anlässe. Ist das nicht so? Oder kann ein Mitglied nicht auch dazugehören, ohne an jeder Veranstaltung teilzunehmen? Ist, wer in einen Hauskreis eingebunden ist und «nur» einzelne Anlässe in der Kirche besucht, deshalb «weniger» Christ?
Wer in einem Pflegeberuf arbeitet, kann schon deshalb nicht immer dabei sein. Unregelmässige Arbeitszeiten nehmen zu. Flexibilität wird seitens der Wirtschaft erwartet.
Ganz provokativ gefragt: Ist jemand nur dann Christ, wenn er die quantitativen Erwartungen erfüllt? Geht Christsein nicht viel weiter? Breiter und tiefer? Qualität im Moment? Da wo ich bin, dort lebe ich meine Überzeugung?
Auch beim Gottestdienst gilt: Anziehungskraft vor Pflichterfüllung.
Statt auf Erwartungen zu pochen, sich auch im Gottesdienst an Bedürfnissen orientieren
Im Marketing wird die Frage anders gestellt. Welche Bedürfnisse hat die Zielgruppe? Welches Verhalten lebt sie? Und wie kann man sie am besten erreichen? Mitten im Alltag, im Berufsleben, eben dort, wo wir leben und wo wir in Gedanken sind. Bedürfnisorientiert. Für die Kirche bedeutet dies, sich auch dort aufzuhalten. Bei den Themen, die Menschen interessieren. Sich aufmachen und, statt aufwendige Strukturen aufzubauen, dort sein, wo «die Musik spielt».
Glaube im Alltag. Beziehungsaufbau. Beziehungspflege. Neuen Medien, neuen Formen, neuen Verhaltensweisen Raum geben. Auch gedanklich. In sich selbst und im Umfeld.
Doch Achtung: Es könnte durchaus sein, dass sich die Gottesdienstsäe dadurch von selbst wieder füllen …
© christliche-Lebensberatung.ch, Autor: Andreas Räber, 11.12.2015, überarbeitet am 15.12.2022